Inhalt
Vorwort
Einleitung
Forschungsstand
Zum Verhältnis zwischen
Literatur und Film
Frears - Laclos  - 
Der Vergleich
Eigene Gestaltungsmittel
des Films
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Anhang
3. ZUM VERHÄLTNIS ZWISCHEN LITERATUR UND FILM

Um Probleme der Adaption von Romanen für den Film zu behandeln, ist es wichtig, noch einmal die erzählerischen Eigenheiten von Film und Roman, aber auch die des Dramas (hier als Bezeichnung für den dramatischen Text verwendet) bzw. des Theaters (als Realisierung des dramat. Textes auf der Bühne) ins Gedächtnis zurückzurufen und einander gegenüberzustellen.

In seinen Möglichkeiten ist der Film beiden Literaturformen sehr verwandt, wenn man bei der dramatischen Literatur nicht nur den Text, sondern auch seine Realisierung auf der Bühne berücksichtigt. Schließlich dürfte zum einen die Rezeption eines Dramas allein als Text immer unbefriedigend sein, zum anderen haben die meisten Dramatiker noch primär für die Aufführung geschrieben, nicht für deren schriftliche Fixierung.

Die Literaturwissenschaft geht häufig davon aus, daß der Film eher eine narrative Gattung ist, indem sie den Filmregisseur und/oder Drehbuchautor als selektive Vermittlerfigur des Geschehens sieht, die entscheidet, was sie mit Hilfe der Kamera zeigt oder nicht zeigt. Sie hat auch die Möglichkeit, das Geschehen aus bestimmten Perspektiven zu sehen. Der Regisseur oder Drehbuchautor ist jedoch nie Erzählerfigur. Er ist Interpret oder Autor des Geschehens und kann als solcher im Film eine Erzählerfigur einführen und auf diese Weise versuchen, eine bestimmte Perspektive vorherrschen zu lassen.

Beim Theater ist der Blickwinkel für den einzelnen Zuschauer immer der gleiche, egal was auf der Bühne geschieht, und zwar, um es mit einem filmischen Ausdruck zu sagen: die Einstellung einer 'Totale'. Der Zuschauer hat in der Regel den gesamten Aktionsraum im Blick, selbst wenn er sich nur auf einen Teil konzentriert. Auf manche Details, die der Film mit einer Großaufnahme betonen kann, muß das Theater bzw. Drama folglich verzichten oder sie verbal oder mit einer entsprechenden Gestik betonen, da weit entfernte Zuschauern sie nicht mehr wahrnehmen können. Dies gilt auch für die Art des Schauspielens, die beim Theater durch die große Entfernung zum Zuschauer eher von Gestik als von Mimik bestimmt ist, während der Film auch kleinste Veränderungen des Gesichtsausdrucks durch Großaufnahmen selbst dem Zuschauer in der letzten Reihe vermitteln kann. Beim Film sieht der Zuschauer die Geschichte aus dem jeweiligen Blickwinkel der Kamera, der in der Regel vom Drehbuchautor und/oder Regisseur festgelegt wird. Genau hier nähert sich der Film dem Roman an, in dem eine Erzähler - oder Reflektorfigur die Geschichte aus ihrer Perspektive vermittelt.

Darüber hinaus kann der Film ebenso wie ein Roman eine große Dichte von Informationen tragen, Dinge in einer Detailgenauigkeit beschreiben, wie es dem Theater - bedingt durch den Standpunkt und die Entfernung des Zuschauers - nicht möglich ist. Doch auch der Romanautor muß sich in diesen Fällen entscheiden, ob er seinen Erzähler genaue Beschreibungen vermitteln lassen will oder sich auf eine dichtere Schilderung der Ereignisse konzentriert. Beides ist kaum nebeneinander möglich und würde nacheinander zwangsläufig zu Längen führen. Der Film kann durch die photographische Wiedergabe auf mehreren Ebenen gleichzeitig vermitteln: z.B. durch Vordergrund-/Hintergrund-Gestaltung. Während eine Handlung in schnellem Rhythmus den größten Raum der Bilder einnehmen kann, können die Details im restlichen Bereich des Bildes gleichzeitig allem anderen widersprechen.

Häufig wird der Begriff 'narrativ' bei dem Versuch, den Film nach literarischen Kriterien einzuordnen, jedoch einfach unpräzise gebraucht, z.B. von William Luhr bzw. Monroe Beardley:

Nearly all films released commercially are narrative films. That means, simply, that they tell a story. They present a series of events, usually involving the same characters, that evidence a cumulative dramatic unity. Monroe Beardley defines a story as "not merely a sequence of events, but a sequence that has some continuity, because each stage grows out of previous stages and leads with naturalness to the future." The presentation of the story constitutes narration....Other forms - novels and plays, for example - are also dominantly narrative, but they are not the same forms. They work in entirely different ways. Narrative is a number of elements that define the form and constitute the work.(18)

Ein weiteres Beispiel dafür zeigt Joachim Paech mit seinem Zitat Robert C. Allens und fügt deshalb in Klammern den Begriff 'fiktional' ein:

Die Entwicklung zum [fiktional] narrativen Film um 1902-1904 [...]. Der [fiktionale] narrative Film war sicherlich die geeignetste filmische Form, ...(19)

Ein Vorteil der Erzählung gegenüber den Formen 'Theater' und 'Film' ist die Möglichkeit, zurückzublättern und eine Passage wiederholt zu lesen oder zu überspringen: eine Möglichkeit, die im Kino überhaupt nicht und im Theater nur durch die Veröffentlichung des Dramas als Text existiert, die die Realisierung auf der Bühne und die Rezeption im Zuschauerraum - beide sind bei jeder Aufführung neu - außer acht läßt.

Erst seit relativ kurzer Zeit bietet der Film in gewissem Maße durch die Verfügbarkeit vieler Spielfilme auf Videocassetten eine Möglichkeit zum "Nachschlagen", wenn man einmal von der in den letzten Jahren immer häufigeren Veröffentlichung des Drehbuchs(20) absieht. Auch die Rezeptionsform des Films als Video nähert sich der des Romans deutlich an, da er nicht mehr in der Masse, sondern wie das Buch im häuslichen Bereich rezipiert wird.

Ein weiterer Annäherungspunkt an den Roman liegt in der Raum- und Zeitstruktur. Film und Roman haben wesentlich mehr Möglichkeiten als das Drama/Theater, die Einheit von Raum und Zeit zu durchbrechen. Durch die Möglichkeit der Montage sind jederzeit Ortswechsel möglich. Auch Zeitsprünge und Rückblicke sind technisch kein Problem und z.T. sogar zur Straffung der Handlung notwendig.

Der Film ermöglicht es sogar, die normalerweise in einer Einstellung erhaltene Einheit der Zeit durch Zeitraffer und Zeitlupe, Standbild und rückwärts laufenden Film zu durchbrechen.

Insbesondere in der Geschichte des französischen Romans haben sich Film und Roman besonders gegenseitig beeinflußt. Den Einfluß des Films auf den Roman verdeutlicht sehr stark Alain Robbe-Grillets Roman La Jalousie, in dem Robbe-Grillet, der selbst auch Drehbücher geschrieben hat, versuchte, die der Kamera eigene Art der Visualisierung in Sprache zurückzuübertragen. Auch in der Romantheorie hat sich dieser neue Typus niedergeschlagen. So versucht z.B. Stanzel, auch La Jalousie in seinem Typenkreis der Erzählsituationen unterzubringen.(21) Dabei stellt er die gewagte These auf, nie könne die Entpersönlichung der Darstellung im Roman stärker sein als im Film.

Mit dem Theater hat der Spielfilm zunächst den audiovisuellen Charakter gemeinsam. Der Zuschauer erlebt mit Augen und Ohren die Darstellung eines Geschehens durch die Schauspieler. Man ist versucht zu sagen, daß in beiden Präsentationsformen die Personen der Handlung unmittelbar zu sehen sind, denn es gerät allzu leicht in Vergessenheit, daß es zum einen im Spielfilm ein technischer Prozeß ist, der die Illusion, Menschen und Dinge real zu erleben, auf die Kinoleinwand oder den Fernsehbildschirm 'zaubert'. Zum anderen sieht der Zuschauer auch im Theater nicht wirklich die Personen eines Geschehens, die der Autor geistig erschaffen hat, sondern lediglich Schauspieler, die durch ihre eigene und des Regisseurs Interpretationen des Dramas die Illusion der Unmittelbarkeit erzeugen. Diese Illusion entsteht in Drama/Theater und Film gleichermaßen durch die fast ausschließlich dialogische Rede der Figuren und die Präsentation des Geschehens im Präsens. Eine weitere wichtige Gemeinsamkeit dieser beiden Formen und zugleich ein Unterschied zum Roman ist zudem, daß eine Erzählerfigur, die das Geschehen vermittelt oder darüber berichtet, nicht notwendig ist.

Unter Unmittelbarkeit wird häufig nur die zeitlich-räumliche Nähe zur Darstellung des Geschehens verstanden, wie sie im Theater vorhanden ist. Bezieht man sich jedoch auf die Ebene des Erlebens, findet das Geschehen für den Zuschauer zur selben Zeit statt, während der er im Kino sitzt. Ist die Zeit der Rezeption vorüber, verläßt der Zuschauer also das Theater oder Kino, tritt auch wieder eine Distanz zum Geschehen ein.

Auch bei der schriftlichen Veröffentlichung des Drehbuchs wird normalerweise eine eher dramatische Form gewählt. Die Dialoge sind meist direkt und ohne Inquit-Formeln wiedergegeben und überwiegen gegenüber den vermittelnden erzählerischen Passagen. Auch die Entwicklung des Drehbuchs geht in diese Richtung: von einem eher erzählerischen Exposé, das die Grundzüge des 'Plots' wiedergibt, über das bereits differenziertere Treatment zu einer immer stärker dramatisierten Fassung mit mehr oder weniger festgelegtem Dialog ausgearbeitet, je nachdem, wie flexibel der Regisseur mit den Schauspielern arbeitet. Um das Screenplay von Christopher Hampton als Beispiel zu nehmen: Darin sind Regieanweisungen vorhanden, die häufig noch nicht der endgültigen Form entsprechen, sowie der fast völlig mit dem fertiggestellten Film übereinstimmende Dialog.

Eine weitere Gemeinsamkeit von Film und Theater ist die starke Begrenzung des Umfangs. Ein Theaterstück dauert in der Regel nicht länger als zwei Stunden, ein Film hat normalerweise eine Länge von 90 bis 120 Minuten. Das Lesen eines Romans nimmt dagegen ein vielfaches davon in Anspruch.

In der folgenden Tabelle sind die wichtigsten Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Roman, Film und Drama bzw. Theater zusammengefaßt:

Tab. 1: Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Roman, Film und Drama/Theater

 

Roman Film Drama/Theater
räumlich unbegrenzt räumlich unbegrenzt räumlich begrenzt
keine Bindung an tatsächliche Zeit Bindung an tatsächliche Zeit kann aufgehoben werden Bindung an tatsächliche Zeit, Zeitsprünge technisch möglich
keine direkte Sichtbarkeit der Handlung Sichtbarkeit der Handlung durch technisches Medium reale Sicht- und Hörbarkeit der Handlung
weite Grenzen des Umfangs enge Begrenzung des Umfangs durch Umstände der Produktion und Rezeption bedingt enge Begrenzung des Umfangs durch Umstände der Produktion und Rezeption bedingt
Vermittlung der Handlung durch Erzähler/Reflektor Vermittlung der Handlung durch Kameraaufnahme Quasi-Unmittelbarkeit der Handlung
Detailgenauigkeit erzählerisch möglich Detailgenauigkeit technisch möglich durch Vorder-/Hintergrund der Aufnahme Detailgenauigkeit nicht sinnvoll durch z.T. große Entfernung des Zuschauers
Blickwinkel variabel Blickwinkel variabel Blickwinkel festgelegt
Körpersprache nur durch verbale Sprache vermittelbar Körpersprache je nach Einstellungsgröße beliebig darstellbar Körpersprache v.a. auf Gestik und Stimme beschränkt

 

3.1. Zum Verhältnis zwischen Verfilmung und literarischer Vorlage

Gerade bei Literaturverfilmungen wird der Film meist am literarischen Original gemessen, und fast ebenso häufig wird beklagt, er würde dem Original nicht gerecht. Das kann ihm schon aus einem einfachen Grund nicht ganz gelingen: jeder Leser wird mit seiner Vorstellungskraft immer seine eigenen Romanfiguren schaffen, die nur mit geringer Wahrscheinlichkeit mit denen übereinstimmen, die sich der Regisseur oder Produzent vorstellt. Doch abgesehen von diesem subjektiven Grund gibt es noch eine ganze Reihe von Gründen, die durch die unterschiedliche Natur der Medien bedingt sind und den Schluß nahelegen, daß man nicht davon ausgehen kann, daß Film und literarische Vorlage einander gerecht werden können oder gar sollen. Einer dieser Gründe, der besonders bei der Verfilmung von Romanen als längerer Erzählform zum Tragen kommt, ist der unterschiedliche Umfang, den Roman und Film in der Regel haben können, wie schon im vorigen Abschnitt dargelegt wurde. Legt man eine möglichst vollständige Übertragung der Handlung als Maßstab für eine gelungene Verfilmung an, kann es außer einer mehrteiligen Serie (meist für das Fernsehen(22)) keine angemessene Romanverfilmung geben.

Vehement verteidigen Wolfram Buddecke und Jörg Hienger(23) die Verfilmung als eigene Gestaltungsform und begründen dies mit dem Reiz für Macher und Zuschauer, einen Stoff immer wieder neu zu gestalten oder neu gestaltet zu erfahren. Ebenso wichtig ist ihnen, daß "Adaptionen einem Massenpublikum Literatur nahebringen, indem sie diese popularisieren, ohne sie zu vulgarisieren". In bezug auf die Verfilmbarkeit von Literatur wenden sie sich gegen André Bazins These, eine adäquate Verfilmung sei selbst bei esoterischen Texten durchaus möglich, da die Hindernisse nicht ästhetischer Art seien, sondern sich aus dem Film als soziologischen und industriellen Faktor ergäben. Nach Ansicht von Buddecke/Hienger sind nicht alle literarischen Formen oder Inhalte visualisierbar, so daß die geringere Komplexität meist zwangsläufig ist. Dafür jedoch ist ihres Erachtens die emotionale Wirkung weit höher als in der Literatur, da die Emotionen auslösende Illusionsbildung während des Sehens der Bilder einsetze und nicht wie bei der Lektüre erst als Folge der Zeichenwahrnehmung, so daß der Schritt zur Deutung nicht zwangsläufig sei.

Auch Paul Goetsch kritisiert in seinem Aufsatz "Thesen zum Vergleich von literarischen Werken und ihren Verfilmungen"(24) die Ansprüche vieler Literaturwissenschaftler, die von der Verfilmung so etwas wie 'Werktreue' verlangen. Er fordert, "den einzelnen Film nicht als 'Aufguß', sondern als eigenständige Gestaltung des vorher im literarischen Werk behandelten Gegenstandes anzusehen."

Insofern ist auch der oben benutzte Ausdruck 'Original' nicht angebracht. Da eine direkte Übersetzung von Sprache in Film nicht möglich ist, kann man die These vertreten, daß der Film als subjektive Interpretation der Vorlage durch den Drehbuchautor und/oder Regisseur wenigstens der Aussage der Vorlage und der Intention ihres Autors gerecht werden sollte. Doch auch diese These ist angreifbar und wird von den erwähnten Autoren kritisiert, denn zum einen gibt es kaum eine verbindliche Interpretation eines Werkes, wie der ganze literaturwissenschaftliche Zweig der Rezeptionsgeschichte eindrucksvoll belegt. Zum anderen scheint es durchaus legitim, eine literarische Vorlage beispielsweise nur als Inspiration des Drehbuchautors zu benutzen oder durch eine eigenwillige Interpretation ad absurdum zu führen. So versieht beispielsweise Forman seinen VALMONT mit dem Zusatz "freely adapted from...".

Diese Arbeit zielt jedoch nicht darauf ab, die Intentionen des Regisseurs oder Drehbuchautors zu bewerten, sondern soll sie wenn möglich lediglich feststellen und der des Autors gegenüberstellen.


3.2.Briefroman und Film

Zum Unterschied zwischen der besonderen Form 'Briefroman' und dem Film ist noch einiges Grundsätzliche zu bemerken. Diese Romanform erlangte im 18. Jahrhundert in den meisten europäischen Literaturen große Verbreitung, da sie unter anderem eine Antwort auf die starke humanistisch orientierte Kritik an der Gattung Roman darstellte, die argumentierte, der Roman sei wirklichkeitsfremd und nicht lehrreich. Meist mit der Herausgeberfiktion verbunden, durch die die Romanautoren behaupteten, daß sie die Briefe gefunden oder zugespielt bekommen hatten, sollten die Briefe die großen Zweifel an der Wahrhaftigkeit ausräumen. Darüber hinaus gab die Herausgeberfiktion die Möglichkeit, Gesellschaftskritik zu üben, die sonst möglicherweise der Zensur zum Opfer gefallen wäre. Gerade seit den dreißiger Jahren verbot die Zensur Druck und Rezension zahlreicher Romane, so daß viele Autoren, z.B. Abbé Prévost und Marivaux, im Ausland drucken ließen. Später, gegen Ende des Jahrhunderts, als sich der Roman endgültig als Gattung durchgesetzt hatte und immer mehr Romane publiziert worden waren, hatte die Herausgeberfiktion als Vorspiegelung einer Realität nur noch poetische Funktion. Trotzdem war häufig unklar, wie authentisch Briefromane noch waren.

Schon im frühen 18. Jahrhundert gab es in Frankreich eine Reihe von Briefromanen, unter denen Montesquieus Lettres Persanes (1721) zu den bekanntesten und thematisch reichsten gehören. Der größere Teil der Briefroman-Produktion setzte dagegen in den vierziger Jahren ein. Besonders Claude Prosper-Jolyot de Crébillon (Crébillon fils) hob sich mit Briefromanen, z.B. den Lettres de la duchesse de ... au comte de ... und den Lettres athéniennes hervor. Auch die Schriftstellerin und Schauspielerin an der Comédie-Italienne, Marie-Jeanne Riccoboni, meist nur als Mme Riccoboni bekannt, schrieb, bereits unter englischem Einfluß, Briefromane, z.B. die Lettres de Fanny Butler (1757) und die Lettres de Milady Catesby (1959). Der bedeutendste Briefroman jedoch war Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse (Amsterdam 1761), dessen Motto Laclos auf die Titelseite seines Romans setzte: "J'ai vu les moeurs de mon temps, et j'ai publié ces lettres." In England leitete Richardson Mitte des Jahrhunderts mit Pamela (1740) und Clarissa (1747/48) den Sentimentalismus ein, in Deutschland erreichte der Briefroman bereits 1774 mit Goethes Die Leiden des jungen Werther den Höhepunkt. Im 19. und 20. Jahrhundert gab es dann nur noch wenige Briefromane.

Bisher sind nicht sehr viele französische Briefromane verfilmt worden. Die Gründe liegen in den folgenden nicht nur ästhetischen Faktoren:

  1. Gemessen an der Romanproduktion insgesamt ist die Zahl der Briefromane verhältnismäßig gering.
  2. Zumindest im Vergleich zu Romanen des 19. Jahrhunderts sind die Romane des 18. Jahrhunderts dem Massenpublikum relativ unbekannt, so daß - wirtschaftlich gesehen - bei der Filmproduktion ein Anschluß an einen Bucherfolg nicht möglich ist.
  3. Ein weiteres Problem ist ebenfalls wirtschaftlicher Natur: versucht man, Romane aus dieser Zeit ihrer Epoche entsprechend zu verfilmen, verursachen sie durch Kostüme und Dekoration meist hohe Produktionskosten, die nicht unbedingt wieder eingespielt werden, wenn der Stoff nicht gerade besonders aktuell ist oder die Zuschauer emotional nicht sehr anspricht.
  4. Das Hauptproblem stellt die Erzählstruktur des Briefromans dar. Wenn Drehbuchautoren nicht nur den 'Plot' des Romans verwenden, sondern auch versuchen wollen, die narrative Struktur des Briefromans zu übertragen, erleiden sie wohl oder übel Schiffbruch. Gelegentlich wird deshalb versucht, die Struktur halb aufzulösen und - bei nur einem Briefschreiber - statt einer Wiedergabe des Schreibens und Lesens der Briefe einen Rahmenerzähler einzuführen, der hin und wieder als solcher visuell im Film erscheint und sonst nur im Off-Ton berichtet.

In der ersten Drehbuchfassung der Verfilmung, die Hampton für Frears schrieb, war der Briefcharakter des Romans kaum noch zu spüren, wie Frears 1989 im Interview mit der Zeitschrift Positif berichtet. Nach der Lektüre dieser Fassung und der anschließenden ersten Lektüre des Romans habe er Hampton gebeten, den Briefcharakter wieder etwas in das Drehbuch hineinzuarbeiten:

"Dans le roman, j'aimais le principe même de l'échange épistolaire, et Christopher a réintroduit cela en partie dans le scénario. Nous avons mis autant de lettres que nous pouvions, par pur plaisir."(25)

Dennoch ist der Film nicht zu einer reinen Rezitation von Briefen geworden. Es gibt nicht mehr als 17 kurze Szenen, in denen 7 Briefe wiedergegeben werden. Dabei handelt es sich häufig um aneinander anknüpfende Szenen, wobei zunächst in der einen Szene der Schreiber im Bild zu sehen ist und im Off-Ton szenenübergreifend aus dem Brief vorliest und in der folgenden Szene der Empfänger dann beim Lesen des Briefes zu sehen ist. Hier zeigt sich auch ein Unterschied zur Fernsehverfilmung von Brabant, der wesentlich stärker die Briefform zu erhalten versucht und so den Film fast zu einer ständigen Brief-Rezitation im On-Ton macht, wodurch der Film jedoch sehr steif wirkt.

Die Beibehaltung der Form des Briefwechsels bei Frears hat jedoch nicht nur eine poetische Funktion, sondern prägt auch die Thematik des Films und seine Dramatisierung. Denn bei Laclos ist die Briefform nicht bloße erzählerische Konvention, sondern gleichzeitig Thema: Der Brief als grausame Waffe(26). Dieses Thema bewahrt auch Frears in seinem Film. Forman hingegen versucht - ausgehend von der Ansicht Merteuils, eher das zu beachten, was die Menschen verbergen wollen, als das, was sie sagen - mit seiner Verfilmung eher darzustellen, was nicht in den Briefen steht. Für ihn sind die Figuren im Grunde nicht so bösartig wie sie oberflächlich scheinen. Insofern ist für ihn die Form des Briefwechsels eher nebensächlich.

(18) William Luhr and Peter Lehmann, Authorship and Narrative in the Cinema, New York 1977, p. XX, zit. nach Alfred Weber, "Film und Literatur in Amerika. Eine Einführung" in: A. Weber/B. Friedl (1988), S. 6.
(19) Robert C. Allen, Vaudeville and Film 1895-1915, Diss. (Univ. of Iowa) 1977, zit. nach J. Paech, Literatur und Film (1988), S. 157.
(20) Gemeint ist hier kein Drehbuch im wörtlichen Sinne mit der Berücksichtigung von Einstellungslängen und anderen Details, sondern im wesentlichen eine Wiedergabe des Texts in ähnlicher Form wie im Drama.
(21) Franz K. Stanzel, Theorie des Erzählens, Göttingen (Vandenhoeck&Ruprecht, UTB) 31985, S. 160, 297, 340.
(22) Selbst bei Fernsehverfilmungen können medienbedingt starke Handlungsänderungen nötig werden, da die Spannungsbögen darauf abgestimmt werden müssen, daß der Zuschauer bei der nächsten Folge möglichst wieder einschaltet.
(23) Buddecke, Wolfram/Hienger, Jörg, "Verfilmte Literatur. Probleme der Transformation und der Popularisierung" in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 36 (1979) 12-31.
(24) P. Goetsch, "Thesen zum Vergleich von literarischen Werken und ihren Verfilmungen" in: A. Weber/ B. Friedl (1990), S. 45-64.
(25) Stephen Frears in: M. Ciment, "Entretien avec Stephen Frears" in: Positif 338 (Avril 1989) 8.
(26) Jean-Luc Seylaz, Les Liaisons dangereuses et la création romanesque chez Laclos, S. 22.

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